Die neuen Humanisten

rezensiert von Marcus Beyer

In seinem Buch beschreibt John Brockman die klassischen Intellektuellen als selbstbezogen und reaktionär. Ihr Hauptkennzeichen sei der Kommentar über Kommentare, wobei sich die Spirale der Kommentierung schließlich so weit drehe, dass die reale Welt aus dem Blickfeld verschwindet. Bedeutende intellektuelle Leistungen unserer Zeit sowie naturwissenschaftliche Erkenntnisse würden ignoriert.

Als Gegengewicht schuf Brockman 1988 mit der Edge Foundation eine Plattform für außergewöhnliche Intellektuelle, die einander Fragen stellen und mit Tabus brechen – mit dem Ziel das Wissen um die Welt zu erweitern. „Die neuen Humanisten“ präsentiert einige spannende Ideen von 22 dieser Koryphäen.

Einer von ihnen ist Jared Diamond, der die unterschiedliche Entwicklung der Kontinente verblüffend schlüssig erklärt – ansich ein Tabuthema, da hier oft insgeheim rassistische Überlegungen (etwa ob weißhäutige Menschen im Durchschnitt intelligenter seien als andere) eine Rolle spielen. Diamond sieht die Größe und horizontale Ausrichtung Eurasiens als eigentliche Ursache der schnelleren Entwicklung, da hier zum einen mehr Innovation importiert werden konnte (eine größere Anzahl von Nachbarn) und zum anderen Nutztiere und Nutzpflanzen über eine große Fläche (Europas und Asiens) Verbreitung finden konnten (ähnliches Klima, ähnliche Tageslänge). Letzteres führt wiederum zu mehr Innovation, da sich aufgrund der resultierenden größeren Effizienz in der Nahrungsmittelproduktion mehr Menschen mit Forschung und Entwicklung beschäftigen konnten.

Helena Cronin entlarvt die heutzutage populäre Leugnung der Gültigkeit von Darwins Evolutionstheorie auf den Menschen als Folge des Irrglaubens, dass ohne Gleichheit keine Gerechtigkeit möglich sei. Für Cronin entsteht umgekehrt oft erst durch die Gleichbehandlung von ungleichen Menschen – beispielsweise von Männern und Frauen – Ungerechtigkeit. So ließen sich Mädchen deutlich besser Mathematik beibringen, wenn man deren angeborene Schwäche bei mechanischem und dreidimensionalem Denken berücksichtigt und didaktisch geschickt umgeht.

Richard Wrangham wirft Licht auf die neuere evolutionäre Entwicklung des Menschen. In den letzten 40.000 Jahren (+/− 10.000) hätten wir uns zu einer immer jugendlicheren Form entwickelt: Die Größe der Zähne, des Kiefers und sogar des Gehirns nehmen ab. Für Wrangham sind dies die Folgen einer Art Auto-Domestizierung: besonders gewalttätige Menschen werden von anderen Menschen aus dem Forpflanzungspool entfernt – z.B. durch Gefängnis oder Hinrichtung.

Ray Kurzweil macht uns darauf aufmerksam, dass das Mooresche Gesetz bereits das fünfte exponentielle Wachstumsparadigma des Computers ist: sie betrafen elektromechanische Rechenmaschinen, Relais, Vakuumröhren, Transistoren und schließlich integrierte Schaltkreise. Als kommendes, sechtes Paradigma sieht Kurzweil massiv parallel geschaltete, dreidimensionale Rechner. Im Gegensatz zum menschlichen Gehirn ist ein heutiger Schaltkreis vollkommen flach. Das Wachstumspotential dreidimensionaler Chips sei derart enorm, dass Computer die Leistungsfähigkeit menschlicher Gehirne in nur wenigen Jahrzehnten überflügeln könnten. Weiterhin sieht Kurzweil voraus, dass wir auf Nanotechnik basierende winzige Computer bzw. Roboter in das menschliche Gehirn aufnehmen werden, um seine Verbindungsdichte und Kapazität um viele Größenordnungen zu erhöhen. Unter den möglichen Anwendungen lockt beispielsweise das vollständige Eintauchen in virtuelle Welten.

Jaron Lanier zeigt, dass das Erfolgsversprechen für menschenähnliche künstliche Intelligenz auf einer Reihe von Glaubenssätzen beruht. Beispielsweise wird angenommen, dass alle Merkmale der Realität – auch Computer und sogar Menschen – nichts weiter als kybernetische Muster sind. Lanier meint, dass wir nicht mal Computer bauen könnten, die zu unseren kybernetischen Modellen passen: „Sie gehen aus Gründen kaputt, die sich nicht immer analysieren lassen, und sie scheinen sich vielen unserer Bemühungen, sie zu verbessern, grundsätzlich zu widersetzen – meist wegen Kompatibilitäts- und ähnlichen Problemen.“ Reale Computer seien somit etwas völlig anderes als die idealen Computer der Theorie.

David Deutsch schließt aus den Ergebnissen der theoretischen Quanteninformatik auf die Beschaffenheit des Universums. Um n kryptographische Schlüssel zu untersuchen muss ein Quantencomputer lediglich die Quadratwurzel von n physischen Operationen durchführen. Die Erklärung hierfür sei vom Standpunkt vieler Universen ganz simpel: hier würden einfach die Quadratwurzel von n Universen zusammenarbeiten. Der Rechenstatus eines Quantencomputers von der Größe eines PC sei von der Informationsmenge her größer als der Zustand des gesamten klassischen Universums mit seinen ca. 1080 Atomen. Dementsprechend erschlagend komplexer als unserer klassischen Vorstellung nach sei das Universum – das er nun „Multiversum“ nennt.

Paul Steinhardt, Lisa Randall und Lee Smolin diskutieren die verschiedenen Anwärter für eine Theorie der Quantengraviation – also einer Theorie, welche die Unvereinbarkeit von Relativitätstheorie und Quantentheorie auflöst. Die besprochenen Kandidaten lauten natürlich Stringtheorie (bzw. M-Theorie) und Loop-Quantengravitation. Während erstere die Elementarteilchen als eindimensionale Objekte (Strings) beschreibt, erklärt letztere den Raum als quantenmechanisches Spin-Netzwerk mit der Planck-Länge als diskreten Abstand zwischen den Knoten. Physiker hoffen in den nächsten Jahren Messungen durchführen zu können, welche die eine oder die andere Theorie bestätigt oder ausschließt.

Fazit: „Die neuen Humanisten“ gestaltet sich als kurzweiliges Abenteuer in die Gedankenwelt einiger brillianter Köpfe unserer Zeit. Befreit von schwer zugänglichen Formalismen, kann der Laie relativ unbeschwert einen ersten Eindruck gewinnen. Die deutsche Übersetzung hat einige kleine, verzeihbare Macken. Prädikat: empfehlenswert.